Erinnerungen an ein "dunkles Kapitel" der Boostedter Geschichte

von Herbert Kahlke, Twiete 40, 24598 Boostedt

 

 

 

Als Elfjähriger bin ich mit meiner Familie nach Boostedt gekommen. Mein Vater war Angestellter bei den „Ruserschen Sägewerken“ seit 1936. Wir waren drei Söhne zu Hause im Alter von 11, 13  und 17 Jahren. Der vierte Sohn wurde im Mai 1941 geboren. Im August 1941 fiel mein „großer Bruder“ in Russland, 19 Jahre alt. Später, 1944 wurde der zweite Bruder in Jugoslawien schwer verwundet.

Das Dorf Boostedt hatte etwa 700 Einwohner. Es gab noch viele Bauernhöfe. Der Truppenübungsplatz und der Bau der „Muna“ und vor allem die Nachricht vom „Heldentod“ innerhalb der Familien erinnerten immer wieder an den Krieg.

Ab Ende 41/42 wurden 500 – 900 russische Kriegsgefangene nach Boostedt verlegt. Ab Ende 41 auch französische Kriegsgefangene (Hof Fuglsang), 1942 ca. 12 – 15 polnische und russische Zwangsarbeiter bei den Ruserschen Sägewerken. In einer  ehemaligen Reichsarbeitsdienst-Baracke Nähe Waldweg (später wohnte neben dem Gebäude die Familie Gustav Schmidt) waren ca. 40 – 50 Zwangsarbeiterinnen untergebracht. Auch diese hinter Stacheldraht.

In der Landwirtschaft waren zum Teil russische Kriegsgefangene (Lager Hofverwaltung, jetzt Schütt, Dorfring) zwangsverpflichtet. Am Tage in der Landwirtschaft tätig (abends im Lager eingeschlossen) hatten diese Gefangenen eine relativ große Bewegungsfreiheit und erfahrungsgemäß auch eine bessere Verpflegung. Das heißt: sie konnten es gut treffen oder nicht, wehren konnten sie sich nicht.

„Zur laxen Handhabung der Vorschriften für den Umgang mit den Kriegsgefangenen und ‚Fremdarbeitern’ gehörte es nämlich auch, dass auf vielen Höfen Prügel an der Tagesordnung waren, obwohl das den landwirtschaftlichen ‚Betriebsführern’ eigentlich verboten war. In der Regel wurde der Dorfgendarm als Vertreter der Ordnungsmacht nicht zu Rate gezogen, wenn ein Bauer der Auffassung war, die Arbeitsdisziplin ‚seines Polen’ oder ‚seines Russen’ sei nur durch körperliche Züchtigung zu verbessern.“ (Quelle: Labskaus Nr. 11, Zwangsarbeiter in Schleswig-Holstein, S. 24 u. 26)

Die in den Ruserschen Sägewerken, Boostedt, Zwangsverpflichteten wurden in einer umgebauten LKW-Garage (Küche und Tisch und Bänke) von einer Frau aus Boostedt verpflegt. Wir wohnten über der Garage. Es war eine Doppelgarage für LKW der Firma Ruser (heute Riepen) an der heutigen Neumünsterstraße.

Im Vergleich zur Einwohnerzahl unseres Dorfes gab es eine Überzahl der bei uns in Gefangenschaft und Zwangsarbeit Lebenden. In einem anderen Dorf in Schleswig-Holstein gab es bittere Beschwerden darüber: „gegenüber der großen Zahl von Fremden seien sie eine deutsche Minderheit“ (Labskaus 11, S. 28, Boksee südl. Kiel; Artikel im Wochenblatt der Landesbauernschaft). Ich denke, diese Furcht bestand in Boostedt nicht, wenn auch immer mehr Männer des Dorfes Einberufungen zum Frontdienst erhielten. Und die Propaganda, O-Ton Hermann Göring: „Sowjets leben in Erdhöhlen, dem Tier gleich, muß nicht bevorzugt behandelt werden“. Wer gesehen hat, unter welchen Bedingungen Zwangsarbeiter leben und arbeiten mussten, und trotzdem das ‚P’ oder ‚Ost’ mit Stolz auf der Brust trugen, war tief beschämt.

Von den kriegsgefangenen Russen, die in der Muna arbeiteten, hat man nur selten etwas wahrnehmen können. Aber die ca. 300 Russen, die jeden Morgen vom Lager zum Boostedter Bahnhof marschierten, konnte man sehen. Sie wurden  dort in bereitstehende Personenwaggons der Bahn zur Arbeit nach Neumünster (Land- und See-Flugzeugbau) verladen (natürlich unter militärischer Bewachung). Dieses Szenario konnte jeder sehen, wenn er es wollte. Die Mannschaft hat dann oft besonders hingelangt.

 

Die harten Winter

Russen haben in den harten Wintern die Straßen und die AKN-Eisenbahn freischaufeln müssen. Später wurde auch die Bevölkerung dazu verpflichtet.

Ein Russe, der auf unserem Hof im Müllkasten die Kartoffelschalen hervorklaubte und verschlang, bekam von meiner Mutter zwei dicke Scheiben Brot. Die Angst in dem Gesicht und die aufgerissenen Augen habe ich nie vergessen. Der Russe wurde mit Kolbenschlägen traktiert und meiner Mutter wurde eine Strafe angedroht. Doch sie antwortete „Ich habe einen Sohn in Russland verloren, ein anderer ist Soldat. Da lass ich mir hier von Ihnen keine Vorwürfe machen!“ Der Wachsoldat hat diese Antwort bestimmt nicht vergessen.

Wie haben die russischen Gefangenen, die sehr schwere Jahre hinter sich hatten, reagiert, als die militärische Bewachung floh und das Lager sich selbst überließ? Die deutschen Soldaten verließen ihre Bunkerstellungen fluchtartig. Das Waldgebiet, teilweise heute Sportplatz, gegenüber der Betonfabrik Neuenschwander war Frontausbildungslager. Hier wurden Soldaten in 4 Wochen fronttauglich ausgebildet. Mein Vater, mein Bruder und ich haben aus einem der Bunker einen Kanonenofen geholt. Als wir in den Bunkerbereich kamen, waren bereits Russen (Kriegsgefangene) dort und hantierten mit Karabinern und Maschinengewehren. Wir wurden nicht bedroht. Sie nahmen eine Gasplane voller Brot mit und verschwanden im Wald. Dieses geschah 1½ Tage vor dem  Einzug der Engländer in unser Dorf. Was hätte alles sein können? Die Frage ist berechtigt, denn was sie ja waren laut Propaganda: Untermenschen und niedere Rasse!

Nachdem die Engländer die Lager befreiten, haben wir später erlebt, wie die Gefangenen singend durchs Dorf marschierten. Für sie war der Krieg vorbei, und sicher freuten sie sich auf die Heimkehr.  – Plötzlich waren sie wieder Menschen. Viele Kinder haben Weißbrot und Süßigkeiten von den Russen bekommen. –  Den Engländern gefiel diese Demonstration ihres Stolzes oder auch Freude nicht so gut. Bekannt ist aber auch: Die in ihre Heimat zurückkehrenden russischen Kriegsgefangenen wurden dort häufig als Kollaborateure behandelt.

Und dann gab es in unserem Dorf doch eine tragische Auseinandersetzung mit Todesfolge in einer Boostedter Familie. - Ich möchte das Ereignis nicht kommentieren mit Rücksicht auf die Hinterbliebenen.

Spätestens jetzt werden Sie fragen: Warum schreibt er darüber? Ich will es Ihnen gerne sagen: 1928 geboren habe ich diese Zeit real erlebt. Den Nationalsozialismus habe ich als Junge und Hitlerjunge miterlebt. Wir waren begeistert von den Siegen und unbeirrbar. Dann schlug der „Heldentod“ in der Familie zu. Hamburg, Kiel und Neumünster brannten. Ich war als 16‑jähriger mit Kuno Langenohl als Wehrführer und Gustav Brüggen und Walter Lübbe usw. in den brennenden Städten Kiel und Neumünster und habe gelöscht. Zum Schippeinsatz Friesenwall (Nordfriesland) wurde ich verpflichtet. (Erläuterung: Die Schule in Neumünster war geschlossen worden,und ich nahm an einer vormilitärischen Ausbildung im Wehrertüchtigungslager Husum teil.)

Und ich wurde in den „Werwolf“[1] verpflichtet. Strafe nach dem Krieg vom Secret Service (englische Militärpolizei Segeberg): Ausgangssperre auf „unbestimmte Zeit“.

Spätestens jetzt haben diese Erlebnisse in meinem Leben neue Fragen aufgeworfen, und ich habe mich in politischen und sozialen Einrichtungen engagiert. Ich schäme mich nicht, ein Deutscher zu sein, und ich lebe auch gern in diesem Dorf, wohin mich das Schicksal gelenkt hat; aber Stolz empfinde ich nicht.

Was mich bewogen hat, meine Erinnerungen niederzuschreiben, ist der verzweifelte Versuch, den Ärger über die schändliche Verschleppung einer Entschädigung an die Zwangsarbeiter zu überwinden. – Auch dieser Zeitabschnitt mit all seinen negativen und menschenverachtenden Auswirkungen gehört zur Geschichte unseres Dorfes Boostedt.

Auf keinen Fall möchte ich den Ausdruck „Zeitzeuge“ inflationieren und habe mich bewusst auf einen Teilbereich meiner Erlebnisse, der mir besonders wichtig ist, beschränkt.

Am 27.7.2000 habe ich an den Bürgermeister der Gemeinde Boostedt einen Brief geschrieben. Am 10.8.2000 erhielt ich eine ausführliche Antwort. Meine Meinung: Es gab in Boostedt Zwangsarbeit, und die politischen Gremien der Gemeinde sollten sich damit auseinandersetzen. Es gibt einige Dörfer und Gemeinden, die sich mit dem Problem befassten und gehandelt haben. Im Jubiläumsjahr könnte Boostedt ein Zeichen setzen, zumal Adressen bzw. Anträge auf Bescheinigungen von damals hier internierten Menschen der Gemeinde vorliegen oder ihr bekannt sind!

Die Wirklichkeit ist ganz deutlich. Nicht nur mit ihrer Arbeit, auch mit ihren nicht unerheblichen Steuerleistungen und Sonderabgaben finanzierten die ausländischen Arbeitskräfte den Krieg auf deutscher Seite mit.

 

Auszüge:

Institut für Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) an der Universität Flensburg (Dienstsitz: Schleswig):
Liste der Lager von Zwangsarbeitenden in Schleswig-Holstein, Kreis Segeberg

Ausschnitt Boostedt[2]

Kdo. Friedrichswalde 375 SU
Luftmunitionsanstalt      60 verschieden
Land- und See
Neumünster
Flugzeugbau
Lager Boostedt
318 SU
Rusersche Sägewerke 8 SU, PL
Kdo. 869
Wald, Bahn, Bau 
260 FR[2]
1021

 

 

[1] Werwolf:
"Heinrich Himmler ließ im Sommer 1944 ... eine Partisanenorganisation mit dem Namen "Werwolf" gründen, die hinter den Linien der vorrückenden Alliierten kämpfen und insbesondere durch Sabotageakte den Gegner schwächen und gleichzeitig die eigenen Kampfverbände entlasten sollte."

(aus: Hermann Weiß: Werwolf, in: Enzyklopädie des Nationalsozialismus. dtv, München, 1997)

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[2] Es ist wichtig zu wissen, dass einige Lager nur zeitweise bestanden. Oft wurden Lagerinsassen von Lager zu Lager verlegt (innerhalb SH), und wenn man die Belegung summiert, kommt in der Bilanz eine höhere Zahl an Insassen heraus, als es tatsächlich waren. Mir scheint die Zahl für die hier im Ort inhaftierten 260 Franzosen zu hoch. Eher ist die Zahl 26 realistisch.

Beim Bau der Muna haben Franzosen arbeiten müssen, sind aber bald abgezogen bis auf eine wesentlich geringere Anzahl (26) am Hof Fuglsang. Das Barackenlager wurde gänzlich mit russischen Gefangenen belegt. (Herbert Kahlke)

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